Es gibt sie noch, die großen Überraschungen in Hollywood: Über lange Zeit war er ein sonderbarer Außenseiter der internationalen Arthouse-Szene, nun gehört Yorgos Lanthimos zu den großen Favoriten der Oscarverleihung 2024. Sein skurriles Fantasy-Drama „Poor Things“ – eine finster-feministische Variante des Frankensteinstoffes – hat gleich in elf Kategorien die Chance, einen Academy Award zu gewinnen. Dagegen kommt nur „Oppenheimer“ an, der mit dreizehn Nominierungen leicht vorne liegt.
Dass Christopher Nolans kalkuliertem Eventblockbuster um den „Vater der Atombombe“ eine derartige Aufmerksamkeit zu Teil wird, ist nicht weiter verwunderlich. Dass es Yorgos Lanthimos bislang gelingt, sich eine bezaubernd-bizarre Handschrift zu bewahren und trotzdem in Hollywood einen solchen Anklang zu finden, hingegen schon. Umso mehr, wenn man sich die filmischen Wurzeln des 1973 in Griechenland geborenen Filmemachers vor Augen führt.
Als einer der wichtigsten Vertreter der subversiven „Greek Weird Wave“-Strömung drehte er seine ersten Langfilme mit äußerst begrenzten finanziellen Mitteln, sein filmisches Interesse von Anfang an auf das Abseitige gerichtet: In „Dogtooth“ isolieren Eltern ihre Kinder und erzählen ihnen perfide Lügen über die Außenwelt, in „Alpen“ schlüpfen Fremde in die Rolle kürzlich Verstorbener, um deren Familien die Trauer zu erleichtern.
Meist haben die Filme Yorgos Lanthimos‘ aber wesentlich mehr mit unserer eigenen Realität zu tun, als es die absurden Szenarien zunächst vermuten lassen. Sie drehen sich um groteske Gedankenexperiment und beunruhigende Versuchsanordnungen, die unweigerlich Fragen über unsere Wirklichkeit und uns selbst aufwerfen.
Der Kurzfilm „Nimic“ (Platz 3 in dieser Liste) verdichtet in nur zwölf Minuten, was Yorgos Lanthimos‘ Werk so aufregend macht: Matt Dillon streift als professioneller Cellist durch die Großstadt, als sein sonst so strukturierter Alltag aus den Fugen gerät. Nachdem er eine Fremde (Daphne Patakia) nach der Uhrzeit fragt, wiederholt sie seine Frage einfach – und folgt ihm daraufhin nach Hause. Dort nimmt sie kurzerhand seinen Platz ein, als sich auch Ehefrau und Kinder nicht mehr daran erinnern können, wer nun der echte „Vater“ ist.
Ein kurioser Fall kollektiver Amnesie? Eine seltsame Kollision im Metaversum? Man kann „Nimic“ als eine Meditation über die Angst vor der eigenen Austauschbarkeit verstehen, die durch einen für Yorgos Lanthimos typischen, aufwühlenden Musikeinsatz und mitunter geisterhaft wirkenden Weitwinkelobjektive umso beunruhigender wird. Eine eindeutige Lesart drängt einem der Filmemacher aber nicht auf. Dass Yorgos Lanthimos seine Werke nicht bis zur Reizlosigkeit vereindeutigt, gehört unweigerlich zu seinen spannendsten Stärken.
Das gilt auch für „The Lobster“ (Platz 2), den man als groteske Komödie auf soziale Zwänge und modernen Dating-Wahnsinn interpretieren kann. Darin schlüpft Colin Farrell in die Rolle eines Singles, der gemeinsam mit anderen Alleinstehenden in ein ominöses Hotel eincheckt, um binnen 45 Tagen eine passende Partnerin zu finden. Gelingt das nicht, wird er in ein Tier seiner Wahl verwandelt.
Dass sich Yorgos Lanthimos mit seinem Umzug nach London verstärkt dem Zugänglicheren öffnete, stimmt zwar: Mit „The Favourite“ – sein kommerziell größter Erfolg, der ihm die erste Nominierung als bester Film und für den Regie-Oscar einbrachte – schuf der griechische Filmemacher ein anschlussfähiges Historienspektakel, das zwar durch einen hervorragenden Cast bestach, im Vergleich zu seinen sonstigen Werken aber inhaltlich dünner ausfiel.
Dass Yorgos Lanthimos sich hervorragend darauf versteht, seinen besonderen Stil mit zeitgeistigen Themen zu verbinden, ohne oberflächlich zu werden - daran besteht allerdings spätestens mit „Poor Things“ (Platz 1) keinerlei Zweifel mehr. Darin lässt der griechische Filmemacher Emma Stone als eine seltsam kindliche Bella Baxter, die durch ein skurriles Experiment keinerlei Erinnerungen mehr an ihr vorheriges Leben besitzt, auf eine fantastisch aufgeladene Welt los.
Ohne Wissen darum, wie die Gesellschaft eingerichtet ist und was sie von ihr erwartet, bewegt sie sich vollkommen frei darin, reist an der Seite eines eifersüchtigen Liebhabers (Mark Ruffalo) durch Lissabon, Alexandria, Paris – und stellt dabei nicht nur Rollenbilder, sondern auch soziale Hierarchien in Frage. Yorgos Lanthimos ist ein künstlerisch wie inhaltlich vielschichtiges Werk gelungen, das in Venedig bereits mit dem „Goldenen Löwen“ geehrt wurde.
Es wäre eine Schmach, sollten nicht noch einige weitere Goldstatuen folgen.
Die besten Filme von Yorgos Lanthimos - und wo sie zu sehen sind
Die folgende Liste enthält die besten Filme von Yorgos Lanthimos, kuratiert von Arabella Wintermayr. Wir zeigen dir außerdem, wo „The Lobster”, „The Favourite” und Co. aktuell im Stream verfügbar sind.